Seinen Körper möglichst gut mit Vitaminen und Mineralstoffen versorgen, das möchte jeder. Und viele Menschen greifen in dieser Absicht zu Vitaminpräparaten. Im Rahmen der Nationalen Verzehrsstudie II (NVS II) gab etwa jeder vierte Deutsche an, Nahrungsergänzungsmittel (NEM) einzunehmen1. In den USA liegt die Rate bei etwa 50 %2.
Beim Anblick der Regale mit Nahrungsergänzungsmitteln kommt allerdings die Frage auf: "Wie viel ist gut und was ist zu viel?" Für die wasserlöslichen Vitamine B und C wird allgemein angenommen: Was zu viel ist, wird ausgeschieden. Gibt es demnach kein Krebsrisiko durch wasserlösliche Vitamine? In den letzten Jahren wurde der Zusammenhang zwischen B-Vitaminen und dem Lungenkrebsrisiko untersucht.
Vitamin und Lifestyle-Studie: B-Vitamine erhöhten das Lungenkrebsrisiko für Männer
Fazit: In der VITamins And Lifestyle Kohortenstudie (VITAL) hatten Männer, die über Jahre hochdosiert Vitamin B6 und B12 einnahmen, ein erhöhtes Lungenkrebsrisiko3.
Studiendetails
Insgesamt nahmen 77.118 US-Amerikaner im Alter zwischen 50 bis 76 Jahren an der VITAL-Studie teil. Die ausführliche Befragung zu Lebensgewohnheiten und der Einnahme von Vitaminpräparaten erfolgte in den Jahren 2000–2002. Die Nachbeobachtungszeit betrug median 6 Jahre. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer gaben in der Befragung an, mindestens einmal pro Woche Multivitaminpräparate, einzelne Vitamine oder Gemische wie Vitamin B-Komplex-Präparate über mehr als ein Jahr einzunehmen. Anhand der Daten des US-amerikanischen Krebsregisters (Surveillance, Epidemiology, and End Results, SEER) wurde festgestellt, dass 808 der Studienteilnehmer an Lungenkrebs erkrankten.
Studienergebnisse
Die langfristige Einnahme von Vitamin B6- und B12-Präparaten führte bei Männern zu einer Lungenkrebs-Risikoerhöhung. Den größten Nachteil laut Studie hatten Männer, die im Mittel über 10 Jahre hinweg die höchste Dosis von mehr als 20 mg Vitamin B6 pro Tag oder mehr als 55 µg Vitamin B12 pro Tag zugeführt hatten: Das Risiko, an Lungenkrebs zu erkranken, war bei ihnen fast doppelt so hoch wie bei denjenigen, die keine Nahrungsergänzungsmittel eingenommen hatten:
- Langfristige Einnahme von mehr als 20 mg Vitamin B6 pro Tag: Hazard Ratio HR 1,82 (95 % Konfidenzintervall, 1,25 bis 2,65).
- Langfristige Einnahme von mehr als 55 µg Vitamin B12 pro Tag: Hazard Ratio HR 1,98 (95 % Konfidenzintervall 1,32 bis 2,97).
Unter Berücksichtigung verschiedener Faktoren waren besonders Männer gefährdet, die rauchten. Deren Lungenkrebsrisiko war in der Gruppe mit höchster Dosierung von Vitamin B6 nahezu verdreifacht (HR 2,93) und von Vitamin B12 fast vervierfacht (HR 3,71) verglichen mit dem Risiko von Rauchern ohne Vitamin B-Supplementation.
Mit Ausnahme des Adenokarzinoms, für das sich kein Zusammenhang ergab, waren die Risiken über alle histologischen Lungenkrebstypen ähnlich verteilt. Keine Effekte zeigten sich bei Studienteilnehmern, die Multivitaminpräparate oder mehr als 600 µg Vitamin B9 (Folat) pro Tag als Einzelpräparat eingenommen hatten. Ebenfalls kein erhöhtes Lungenkrebsrisiko hatten Frauen bei erhöhter Vitamin B-Zufuhr.
Offene Fragen
Spekuliert wird, ob die Supplementation hoher Dosen Vitamin B6 und B12 über längere Zeit hinweg das Zellwachstum anregen könnte. Zudem kann Nikotinkonsum zu Zellveränderungen führen und so eine Krebsentstehung begünstigen. Die Geschlechterunterschiede führen die Autoren der Studie auf verschiedene hormonelle und genetische Faktoren bei Männern und Frauen zurück.
Allerdings können Ergebnisse aus prospektiven Beobachtungsstudien keine Zusammenhänge beweisen, sondern nur Hinweise geben. Zur Klärung sind weitere Studien notwendig.
Vitamin B-Supplementation: Empfehlungen für die Zufuhr?
Vitamin B6: Für Männer 1,4–1,6 mg (altersabhängig); 1,2 mg für Frauen
Vitamin B9 (Folat): 300 µg
Vitamin B12: 4,0 µg
Für Schwangere und Stillende gelten abweichende Empfehlungen.
In der Nationalen Verzehrsstudie II wurde bundesweit unter anderem untersucht, wieviel Vitamin B die deutsche Bevölkerung zu sich nimmt. In allen Altersgruppen lag die mediane Zufuhr von Vitamin B6 und B12 über den Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Ernährung e. V. (DGE) (siehe Infobox). Die Vitamin B9 (Folat)-Zufuhr dagegen lag in allen Altersgruppen im Median deutlich unter der empfohlenen Zufuhr1. Unter ärztlicher Kontrolle kann ein möglicher Mangel erkannt und gezielt behandelt werden.
Wer dennoch, auch ohne einen vorliegenden Mangel – neben einer ausgewogenen und vollwertigen Ernährungsweise – nicht auf Supplemente verzichten möchte, kann sich an den empfohlenen Referenzwerten der Deutschen Gesellschaft für Ernährung e.V. (DGE) für Vitamine und Mineralstoffe orientieren: www.dge.de/wissenschaft/referenzwerte/4.
Vom Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) liegen Vorschläge für Nationale Höchstmengen für Vitamine und Mineralstoffe vor5. Eine Regelung über EU-weit gültige Höchstmengen ist in Vorbereitung6.
Zum Weiterlesen: Verwendete Quellen und vertiefende Informationen
1 Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz (BMEL), Max Rubner-Institut (MRI). Nationale Verzehrs-Studie II. Ergebnisbericht, Teil 2. (2008). www.bmel.de/SharedDocs/Downloads/Ernaehrung/NVS_ErgebnisberichtTeil2.pdf?__blob=publicationFile
2 Martinez ME, Jacobs ET, Baron JA, Marshall JR, Byers T. Dietary Supplements and Cancer Prevention: Balancing Potenial Benefits Against Proven Harms. J Natl Cancer Inst. 2012. 104:732-739. doi: 10.1093/jnci/djs195.
3 Brasky TM, White E, Chen C-L. Long-Term, Supplemental, One-Carbon Metabolism-Related Vitamin B Use in Relation to Lung Cancer Risk in the Vitamins and Lifestyle (VITAL) Cohort. J Clin Oncol. 2017. 35(30):3440-3448. doi: 10.1200/JCO.2017.72.7735.
4 Deutsche Gesellschaft für Ernährung e.V. (DGE). Wissenschaft. Referenzwerte. www.dge.de/wissenschaft/referenzwerte/
5 Lebensmittelverband Deutschland. Bund für Lebensmittelrecht und Lebensmittelkunde e.V. Stellungnahme des AK NEM bezüglich BfR-Empfehlungen zu Höchstmengen für Vitamine und Mineralstoffe in Nahrungsergänzungsmitteln (2018). www.bll.de/de/verband/organisation/arbeitskreise/arbeitskreis-nahrungsergaenzungsmittel-ak-nem/ak-nem-stellungnahme-bfr-empfehlungen-hoechstmengen-nem
6 Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR). Gesundheitliche Bewertung von Nahrungsergänzungsmitteln. www.bfr.bund.de/de/gesundheitliche_bewertung_von_nahrungsergaenzungsmitteln-945.html
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