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Krebs im Alter

Leitlinien empfehlen ein geriatrisches Assessment

Im Alter laufen Krebspatienten oft Gefahr, über- oder unterbehandelt zu werden. Geriatrische Assessments helfen, Therapieentscheidungen zu optimieren. Wie das gelingen kann, erläutert Ihnen krebsinformationsdienst.med.

Ältere Patientinnen und Patienten mit Krebs sind eine spezielle und heterogene Patientengruppe. Das optimale Therapiemanagement basiert sowohl auf der Tumorbiologie als auch auf dem biologischen Alter – und weniger auf dem rein numerischen Alter. Verfahren, die das individuelle biologische Alter messen, werden unter dem Begriff "Geriatrisches Assessment (GA)" zusammengefasst.

Obwohl sie für alle älteren Krebspatienten empfohlen sind: GA-Messinstrumente werden in der Routine noch zu selten eingesetzt.



Ein nicht ganz seltenes Szenario, das auch "Zufall" sein kann: Mit diesen oder ähnlichen Geschichten wenden sich ältere Krebspatienten beziehungsweise ihre Angehörigen häufig an den Krebsinformationsdienst. Die Frage nach Anlaufstellen, die in solchen Situationen unterstützen können, lässt sich relativ leicht beantworten.

Was aber unterscheidet Krebserkrankungen bei jüngeren Patienten von denen bei älteren? Was versteht man unter "alt"? Warum ist es wichtig, über geriatrische Assessments Bescheid zu wissen?

Alt ist nicht gleich alt

Alte Frau geht mit Rollator © Krebsinformationsdienst, Deutsches Krebsforschungszentrum
Alte Frau geht mit Rollator. ©Krebsinformationsdienst, Deutsches Krebsforschungszentrum

Wie schnell Menschen altern, ist individuell unterschiedlich. Personen gleichen Lebensalters können verschieden gesund und belastbar sein. Der biologische Alterungsprozess ist komplex: Prinzipiell kann er alle Organsysteme im Körper betreffen. Beispielsweise nehmen physiologische Funktionen von Leber, Niere, Herz und Immunsystem mit dem Alter ab. Auch Muskel- und Knochenmasse sowie Denk- und Gedächtnisleistungen können mit dem Älterwerden sinken.

Unterschiedliche Fähigkeit zur Kompensation

Viele altersbedingte Veränderungen treten unter normalen Bedingungen nicht in Erscheinung: In begrenztem Maße ist der Körper in der Lage, Funktionseinschränkungen auszugleichen. Kommen jedoch zusätzliche Belastungen auf einen älteren Menschen zu, wie etwa eine Krebserkrankung, Krebstherapie oder ein Klinikaufenthalt, können Defizite sichtbar werden. Die Fähigkeit, Defizite zu kompensieren, kann von Mensch zu Mensch sehr unterschiedlich sein und mithilfe geriatrischer Testverfahren untersucht werden ("Staging the aging").

Wie alt ist älter?

Darüber gibt es keine einheitliche Definition, wann man Menschen als "älter" bezeichnet. In der Krebsmedizin werden Altersgrenzen ab 55, 65, 70, 75 oder 85 Jahren genannt. Nach ihrem biologischen Alter teilt man Patienten – anhand eines geriatrischen Assessments – in 3 Fitnessgruppen ein:

  • fit (rüstig, robust)
  • vulnerabel (anfällig, verletzlich)
  • frail (hinfällig, gebrechlich)

Wichtig zu wissen: Fitte ältere Patienten vertragen Krebstherapien in der Regel besser und leben länger als gebrechliche Patienten. In der geriatrischen Onkologie steuern Ärzte die Therapie daher nicht nur nach den Eigenschaften des Tumors, sondern auch nach dem biologischen Alter des Betroffenen und seinen persönlichen Präferenzen.

Was ist ein geriatrisches Assessment?

Mithilfe eines geriatrischen Assessments kann der Arzt altersassoziierte Probleme erkennen, die ihm bei einer herkömmlichen Anamneseerhebung und körperlichen Untersuchung typischerweise entgehen würden. In der Regel wird ein geriatrisches Assessment für alle Patienten empfohlen, die 75 Jahre und älter sind, oder für jüngere Patienten mit Gesundheitsproblemen.

Die Einteilung nach medizinischer Fitness hilft, die onkologische Behandlung dem individuellen Gesundheitszustand anzupassen. So kann der Arzt eine Übertherapie beziehungsweise eine Untertherapie bei älteren Krebspatienten vermeiden.

Stufenweises Vorgehen

Für das geriatrische Assessment (GA) gibt es verschiedene Messinstrumente. In der Regel wird das GA abgestuft angewendet – je nachdem, was individuell notwendig ist.

Geriatrisches Screening: Instrument, um schnell Patienten zu identifizieren, die eine weitere geriatrische Diagnostik benötigen. Ein Beispiel für ein kurzes Screening in der Onkologie, das nur wenige Minuten dauert, ist die G8-Checkliste: Abgefragt werden 8 Items wie Nahrungsaufnahme und Gewichtsverlust in den letzten 3 Monaten, Body Mass Index, Alter, vom Bett oder Stuhl aufstehen, nach draußen gehen, Einnahme von mindestens 4 Medikamenten und psychologische Probleme. Außerdem wird der Patient gebeten, seinen Zustand – im Vergleich zu Gleichaltrigen – selbst einzuschätzen.

Mit diesem vorgeschalteten Screening kann man fitten Älteren umfangreiche Tests ersparen. Ist der G8-Fragebogen allerdings ‎auffällig, wird ein spezialisierter Arzt um ein Konsil gebeten, der ein komplettes geriatrisches Assessment durchführt.

Komplettes geriatrisches Assessment: Goldstandard, um die Physiologie des alternden Menschen umfassend zu messen, im Englischen auch als "Comprehensive Geriatric Assessment (CGA)" bezeichnet. Das CGA deckt folgende Problemfelder ab:

  • Basisfähigkeiten des täglichen Lebens wie Ankleiden, Telefonieren und Regeln von Geldgeschäften
  • Körperliche Gesundheit (Komorbidität, Mobilität)
  • Psychische Gesundheit (Angst, Depression)
  • Geistige Gesundheit (Kognition, Demenz)
  • Multimedikation (Polypharmazie)
  • Ernährungszustand
  • Soziales Umfeld

Warum ein geriatrisches Assessment durchführen?

Krebsspezifische Therapien wie Operation, Chemotherapie, zielgerichtete Therapie, Immuntherapie und Strahlentherapie belasten ältere Patienten und Patientinnen in besonderem Maße. Mehr als bei jungen Menschen können sich bei alten therapiebedingt Krankenhausaufenthalte verlängern. Die Neigung zu stürzen kann sich infolge einer Polyneuropathie – wie es in der Beispielanfrage anklingt – verstärken, auch mit dem Risiko eines Knochenbruchs. Oder die Wahrscheinlichkeit, geriatrische Syndrome wie ein postoperatives Delir zu erleiden, kann steigen. In der Folge droht Betroffenen, an Selbstständigkeit zu verlieren oder gar pflegebedürftig zu werden.

Geriatrische Assessments (GA) erlauben abzuschätzen, welche "Reserven" Betroffene im Alter mitbringen, um eine geplante Krebsbehandlung erfolgreich zu bewältigen. Werden durch das GA altersabhängige Veränderungen festgestellt, können der Arzt oder die Ärztin die Therapie entsprechend anpassen. Ziel des GA ist also, die onkologische Versorgung bestmöglich auf die Situation des einzelnen Patienten auszurichten und möglichst "nicht zu schaden". Wissenschaftliche Daten zeigen:

  • Das geriatrische Assessment führt bei rund einem Viertel der älteren Krebspatienten zu einer Änderung des ursprünglichen Therapieplans – andere Dosis, anderes Therapieintervall, andere Therapieoption usw.
  • Therapieempfehlungen können sich in beide Richtungen ändern: Zwei Drittel der älteren Patienten rät der Arzt zu einer weniger intensiven Behandlung und einem Drittel zur Therapieintensivierung.
  • Bei mehr als 70 Prozent der Betroffenen empfiehlt der Arzt Maßnahmen, um die Therapiefähigkeit zu verbessern – basierend auf dem geriatrischen Assessment (siehe Kapitel "Geriatrische Interventionen").

Evidenzbasierter Nutzen – Leitlinienempfehlung

Klinische Studien haben gezeigt, dass geriatrische Assessments bei älteren Krebspatienten Überleben und Lebensqualität verbessern. Daher empfehlen onkologische Leitlinien, ältere Patienten vor der Therapieentscheidung prinzipiell geriatrisch zu screenen und gegebenenfalls ein vollumfängliches geriatrisches Assessment (GA) durchzuführen. Auch im interdisziplinären Tumorboard sollten Ärzte und Ärztinnen das GA in ihren Empfehlungen berücksichtigen.

Zum geriatrischen Assessment existieren verschiedene deutsche und internationale Leitlinien. Einige geben allgemeine Empfehlungen für die Gesamtheit der älteren Krebspatienten. Zu einem anderen Teil beziehen sie sich nur auf bestimmte Tumorentitäten und/oder auf spezifische Krebstherapien. Eine Auswahl finden Sie in der Quellenliste am Ende der News.

Geriatrische Interventionen

Aus dem geriatrischen Assessment lassen sich Maßnahmen ableiten, die die Erfolgschancen der onkologischen Therapie optimieren und das Risiko von unerwünschten Therapiefolgen verringern. Ältere Patienten können von diesen Interventionen profitieren, weil sie die Ausgangssituation und somit die Therapiefähigkeit verbessern (Beispiele):

  • Behandlung von Begleiterkrankungen
  • Ernährungstherapie bei Gewichtsverlust
  • Sturzprävention bei erhöhtem Sturzrisiko
  • Physiotherapie zur Verbesserung der Mobilität
  • Zusätzliche soziale Unterstützung, häusliche Hilfen
  • Psychiatrisch-psychologische Behandlung bei Demenz und Depression
  • Reduktion des Medikationsplans bei Polypharmazie, um Wechselwirkungen zu vermeiden ("Deprescribing")

Geriatrische Interventionen können rechtfertigen, dass die eigentliche Krebstherapie verzögert beginnt. Auch kann es sinnvoll sein, sie begleitend zur Behandlung fortzuführen.

Fazit: Informieren und darüber sprechen

Personalisierte Medizin: Den Gesundheitszustand eines älteren Krebspatienten in seiner Gesamtheit zu erfassen, ist genauso wichtig wie die exakte Tumorbiologie. Geriatrische Assessments (GA) unterstützen den Arzt, die Krebstherapie gezielt auf die individuelle Situation des Betroffenen zuzuschneiden. Weil der gesundheitliche Zustand sich im weiteren Verlauf ändern kann, sind GA bei Bedarf zu wiederholen.

Dabei arbeitet der therapieführende Krebsspezialist, beispielsweise der Onkologe, meist in einem multidisziplinären Team – zusammen mit Geriater, Krankenschwester, Hausarzt, Sozialarbeiter, Ernährungsberater, Physiotherapeut, Ergotherapeut, Pharmazeut, gegebenenfalls Palliativmediziner und vielen anderen mehr.

Verbesserte Arzt-Patienten-Kommunikation

Geriatrische Assessments bieten Arzt und Patient die Möglichkeit, über das Älterwerden und altersbedingte Probleme zu sprechen. Dieser Austausch kann Zufriedenheit, Vertrauen und Compliance bei Patienten und Patientinnen fördern. Ebenfalls eingebunden in solche Gespräche sind in der Regel die Familie und das soziale Umfeld.

Bei der Behandlungsplanung rückversichert sich der Arzt, dass der Betroffene die Informationen zu seiner Erkrankung, Prognose und möglichen therapiebedingten Nebenwirkungen genau versteht. Für eine partizipative Entscheidungsfindung ist zudem von Bedeutung, dass die Beteiligten übereinstimmende Vorstellungen über Heilbarkeit und Lebenserwartung haben. Eine wichtige Rolle spielen dabei auch persönliche Werte und Ziele: Anders als jüngere finden ältere Menschen die Lebensqualität oftmals wichtiger als eine Verlängerung der Lebensdauer.





Herausgeber: Deutsches Krebsforschungszentrum (DKFZ) │ Autoren/Autorinnen: Fachkreise-Redaktion des Krebsinformationsdienstes. Lesen Sie mehr über die Verantwortlichkeiten in der Redaktion.

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